KöNIGSWEGE FALLEN NICHT VOM HIMMEL

Berlin ist unverbesserlich. Es ist, wie es ist, und bleibt auch dann so, wenn sich schönste Chancen auf Veränderung ergeben. Ob man das für Charakterstärke oder Sturheit hält, mag Geschmackssache sein. Für den guten Geschmack indes ist das nicht immer gut. Als die Berliner Spitzengastronomie in der zweiten Dekade des neuen Jahrtausends einen spektakulären Aufschwung nahm und aus dem kulinarischen Tal der Tränen plötzlich das Gelobte Land der Feinschmeckerei wurde, als die Michelin-Sterne auf die Hauptstadt prasselten wie das Gold auf das Sterntalermädchen, blieben die allermeisten Berliner ihrer Currywurst nibelungentreu und überließen es den Touristen, die Gourmetlokale zu füllen.

Jetzt hat sich die weltweite Berlinbegeisterung abgekühlt, die zahlungskräftigen Touristen fahren lieber nach Lissabon oder Kopenhagen, die Zahl der Flüge nach Berlin hat sich im Vergleich zu präpandemischen Zeiten halbiert – und die Spitzengastronomie merkt nun, auf welch dünnem Eis sie bisher ihre Pirouetten drehen durfte. Es gibt kein Haus in der Hauptstadt, das nicht zu kämpfen hätte, weil ein goldenes Jahrzehnt der Gourmandise im Alt-Berliner Gaumen so tiefe Spuren hinterlassen hat wie ein Fußabdruck im märkischen Sand.

Die Küche als Kommune

Billy Wagner gehört zu den umtriebigsten, schillerndsten und klügsten Spitzengastronomen Berlins und nicht zu jenen Menschen, die so leicht die Flinte ins Korn werfen. Vor neun Jahren eröffnete er mit seinem Chefkoch Micha Schäfer das „Nobelhart & Schmutzig“, sorgte mit seinem radikalen Regionalismus für Furore, wurde schnell zu einer international bekannten Adresse und musste sich weder um sein Auskommen noch um sein Ansehen Sorgen machen. Doch mit der Krise sind die Umsätze um ein Fünftel eingebrochen, selbst Großereignisse wie die Internationale Tourismus-Börse machen sich bei den Reservierungen kaum noch bemerkbar, und da Besserung nicht in Sicht ist, schritt Billy Wagner zur Tat.

Er hat die Preise und die Zahl der Gänge im Menü halbiert, die Doppelbelegung der Plätze eingeführt, das Elaborierte für das Handfeste aufgegeben und seine Küche in eine Art kulinarische Kommune umgewandelt. Jeder Koch kocht jetzt jeden Posten, alle teilen sich die Schichten der abgeschafften Spüler, keiner arbeitet mehr als 40 Stunden, ein strenger Verhaltenskodex sorgt für das respektvolle Miteinander. Und die Belegschaft bildet nun gemeinsam mit den Gästen und den Produzenten ein Triumvirat der Ebenbürtigkeit, bei dem niemand übervorteilt oder ausgenutzt wird. „Wertezentrierte Gastronomie“ nennt Wagner dieses neue Konzept, mit dem er nicht nur den chronischen Personalmangel in der Gastronomie überwinden, sondern auch ein neues Bewusstsein bei den Gästen für den Wert des guten Essens von seiner Produktion bis zu seiner Zubereitung schaffen will.

Brotzeit im Sternelokal

Sonst aber ist alles beim Alten geblieben. Gekocht wird immer noch „brutal lokal“, gegessen bei Schummerbeleuchtung an einem riesigen Tresen, der von drei Seiten die offene Küche umschließt, gespielt Chill-out-Musik von echten Schallplatten, bei denen sich die Nadel manchmal minutenlang an einer Rille verhakt. Und die Stimmung unter den Mitarbeitern ist immer noch unverändert verschworen enthusiastisch, nur dass sie jetzt nicht mehr dem üblichen Protokoll der Spitzenküche vom Amuse-Gueule bis zum Petit Four folgen, sondern zum Auftakt des Abends eine Brotzeit servieren: Eine junge Frau schleppt zwei Steinguttöpfe mit Doppelrahmbutter an unseren Platz. Die eine ist zwei Monate lang gereift, die andere seit dem 28. Oktober 2021 in ihrem Topf und schmeckt inzwischen so schmeichelnd wie ein milder Weichkäse. Zum Naschen gibt es dazu Roggensauerteigbrot, eine geräucherte Schlagwurst, Chicorée mit Rosen-Verjus, Feta mit Fenchelsaat und Spitzkohl-Julienne mit Kümmel – ausnahmslos ausgezeichnete Produkte, die man indes in annähernd ähnlicher Qualität auch in einem guten bayerischen Wirtshaus bekommen könnte.

Die neue brutale Schlichtheit des „Nobelhart & Schmutzig“ setzt sich dann nahtlos fort: mit einem rohen Radieschen, das von nichts anderem als Giersch, Meerrettich, Béchamelsoße und Semmelbrösel-Mousse begleitet wird; und mit einem Risotto aus weißen Bohnen, das sich als Entourage mit Liebstöckel und Rohmilchkäse von der Hofgemeinschaft Heggelbach am Bodensee begnügt. Das ist maximaler Purismus hart an der Grenze zur kulinarischen Askese, entspricht gleichwohl exakt Billy Wagners avantgardistischer Vorstellung von Raffinesse, die sich allein auf die schnörkellose, unverfälschte Präsentation des besten Grundprodukts konzentriert.

So gut schmeckt frisches Lamm

Bei der Hühnerbrust des bekannten Züchters Lars Odefey, der seinen Tieren mehr als 100 Tage Zeit zum Wachsen gibt, wird der Minimalismus auf die Spitze getrieben: Dieser Extra-Gang besteht tatsächlich aus nichts anderem als zwei Streifen von der Brust, die mit einem wunderbar dichten Hühner-Jus glasiert und gerösteter Koriandersaat gesprenkelt sind. Bei der Hüfte und Haxe vom Lamm geht es dank Lauch, Bärlauch und einem eminent intensiven, mit Zwiebeln gebundenen Lamm-Jus ein wenig bunter zu, wenngleich auch dieser Teller weit von einem Aromen-Wimmelbild entfernt ist. Doch er gibt Menschen, denen die Spitzengastronomie nicht das tägliche Brot ist, eine fabelhafte Vorstellung davon, wie gut Lamm schmecken kann, wenn es nicht als Tiefkühlkost aus Neuseeland herbeigeschafft wird.

Handfest, authentisch und kein bisschen intellektuell nennt Billy Wagner seine neue Küche, die niemandem Komplikationen bereiten soll, weil die Welt schon kompliziert genug ist. Und die Zahl der Menschen, die Spaß an Vier-Stunden-Abenden im Restaurant haben, nimmt seiner Meinung nach ohnehin dramatisch ab. So werden wir nach zwei Stunden mit einem Hafer-Biskuit verabschiedet, das dank Kompott und Sorbet aus eingelegten Heidelbeeren das Aroma des vergangenen Sommers herrlich konserviert hat, atmen draußen die currywurstgeschwängerte Berliner Luft und hoffen inständig, dass das „Nobelhart & Schmutzig“ seinen guten Weg in die Zukunft, nicht aber den Königsweg für die Spitzengastronomie gefunden hat.

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